Author: Kölwel, Gottfried, 1889-1958
German poetry — 20th century
Gesänge gegen den Tod
Gottfried Kölwel
Gesänge gegen den Tod
1914
Kurt Wolff Verlag · Leipzig
Dies Buch wurde
gedruckt im März 1914
als siebzehnter Band der Bücherei
„Der jüngste Tag“ bei Poeschel & Trepte
in Leipzig
Copyright 1914 by Kurt Wolff Verlag, Leipzig
Es gibt keine Toten!
Maus, Hund und Mond
oder:
Die dreieinige Liebe
Jene blutigangefahrne Maus,
die sich im Staub der Straße weh vertropfte,
als der Tag schwand und der mörderische
Autobus schon in der Ferne klopfte,
pulste auf zur Zeit der Morgenfrische
fern im Orient in einer neuen Maus.
Ein weißer Hund lief durch den kühlen Schatten,
der sich dichter in den Abend wob,
beschnupperte den kalten Leib und fühlte
seine Pflicht, die Toten zu bestatten.
Wie er die Leiche leicht mit Heilandszähnen hob
und sie in seinen Grabesrachen schluckend wühlte!
Der junge Mond verzückte sich, als er
die große Liebe sah, zog seinen Säbel
aus den Wolken, die ihn seligschwer,
wie Hallelujaengel hell umkränzten,
und zerschnitt den blauen Weihnachtsnebel,
daß die Menschen, die es sahen, alle glänzten.
Ewige Stunde
Ich sah an einem himmelblauen Tag
nichts, als die wunderlichen Wolken wehn,
und fühlte meine Erde schaukelnd gehn,
auf der ich, süß vom Licht gekreuzigt, lag.
Die Stunde, die ich lebend so vollbrachte,
war weise wie ein hungeriges Tier;
ich wußte nicht mehr, daß ich selig lachte,
ich lachte, denn ich wußte nichts von ihr.
Als wiegte jemand ohne Aufenthalt
mich ewig fort von Tor zu Toren,
war ich plötzlich tausend Jahre alt
und plötzlich ungeboren.
Ein Lied gegen den Tod
Wenn dir der hinterlistige Tod
an weißen Tagen
mitten auf der Gasse
im eigenen Schatten begegnet und droht,
lauf unter die Sonne und lasse
ihn totschlagen!
Blinkt aber des Nachts aus dem schalen Wein
sein bleiches Gebein,
ist’s wohl am besten, man läuft
ans Faß und schüttet alles hinein,
daß der Tod ersäuft.
Zuweilen
kommt es auch vor,
daß er gleich tausend Nächte lang mit geilen
Brüsten und Schenkeln als falsche Venus erscheint und nicht ruht,
bis du seine Begierden stillst.
Grabe deiner blinden Glut
zeitig einen Löschgraben vor,
wenn du nicht als Götzenopfer verbrennen willst!
Wenn er dir aber einmal in einer müden Stunde
heimtückisch die Wunde
des Sterbens beibringt, dann zeige
auf deine Kinder, auf die sprossenden Zweige
der Bäume oder auf den roten
samenreichen Mohn im Feld,
nimm nochmal deine ganze Stimme hervor
und schrei es dem armseligen Scheusal höhnisch ins Ohr:
Du bist umsonst auf der lebendigen Welt,
es gibt keine Toten!
Begegnung
Auf den winterlichen Höhen, die vom kalten
Silberlicht des Sonntaghimmels rund umflossen
waren, wandelte viel Volk, das aus der großen
Meuchelstadt geflüchtet war, in warmen Falten.
Plötzlich nahte, wie gesandt, ein kleiner Schlitten.
Eine Mutter saß, den weiten Schoß verhüllt,
darauf und lächelte, bis in das Herz erfüllt
von denen, die, den Schlitten ziehend, vor ihr schritten.
Daß der Vater liebend sich in ihr verzehrte,
um in seinem Sohn, der neben ihm auf strammen
Beinen lachte, himmelssüchtig aufzuflammen,
wie sie, als sie dieses dachte, sich verklärte!
O, wie war die Mutter Weg und Mittelpunkt,
weil sich die Ewigkeit in ihrem süßem Schoße
gnädig kreuzte; o welch ungeheuergroße
Liebe aus Geburt und Sterben ewig prunkt!
Und manche aus dem Volke bebten bis ins Haar,
weil sie erschauerten vor dieser Gottesgröße,
die auf einem Schlitten wie in heiliger Blöße
unter kalten Himmeln jäh erschienen war.
Der Flieger
Im Wind ertrank
ein Flieger, der zur Tiefe sank.
Selig schied der schwarze Sarg,
der einen Fetzen Gottesgewand
zur Heimfahrt in sein webendes Land
in sich barg.
Und als die Menschen weinten, lachte
die Erde und schob den Schrein
in den unendlichen Webstuhl hinein
und wirkte, bis sie das große Werk, vielleicht in einem Vogel, vollbrachte.
Ein Erntelied
Ihr wißt, daß alle Körner, die guten und die bösen,
sich aus verdorrten Ähren lösen.
Die einen fallen aus dem Scheffel auf die Tenne
und wandern durch den Höllenleib der Henne,
andre werden in den Mühlen zerrissen
oder brechen unter den Gebissen
hungeriger Pferde,
viele aber, die unbeirrt
des Weges gehen, suchen ihre Gräber in der Erde,
bis die Auferstehung in ihnen wurzelig wird.
Fragt nicht: Warum? Denn eure Frage verendet
schmerzhaft im unendlichen Gewölbe,
wenn ihr nicht glaubt, daß alle Körner dieselbe
Reise gehen, die sich im Leben ewig vollendet.
O Welt, wie bist du wundervoll!
Brand
Die Abendsonne setzte sich
auf einen Inselberg und schwang
die grellen Fackeln feierlich,
daß Glut zu Gluten übersprang.
Es brannten Ströme, Watt und Meer,
in Flammen wehte weit das Land,
die Türme lohten rund umher,
am Wege brannte gelb der Sand.
Und über allem flog der Rauch
der Wolken, rot, grau, schwer und rund,
rauchsäulenwölkig dampften auch
die Bäume aus dem großen Grund.
Ein Wanderer, der des Weges kam,
blieb taumelnd stehn im Flammenland,
vergaß die Finsternis und nahm
sein Herz und warf es in den Brand.
Es zuckte, glühte, flammte toll
und jauchzte aus der grellen Glut:
O Welt, wie bist du wundervoll,
in deinem Feuer kocht mein Blut!
Abenddämmerung
Wie sich der Rauch der späten Kühle
gespenstisch durch mein Fenster drängt,
die Räume, die ich sinken fühle,
zur Hexenstube grau verengt!
Mich zu erdrücken drohn die Wände,
die Ahnenbilder werden bleich
und aus den Bildern greifen Hände,
wie Hände aus dem Totenreich.
Im offnen Schrank, wo Würmlein knarren,
spielt mir das ganze alte Chor
zerlumpter Puppen, bunter Narren
das Todesspiel der Kindheit vor.
Aus dem Kamin die Kohlen gleißen
als rote Zähne, die voll Gier
sind, alles, alles zu zerbeißen,
vom letzten Ding die letzte Zier.
Ich stehe bebend und verworren
und meine Hand sucht irgendwo,
bis sich das Dunkel hat verloren,
erlöst zur Flamme, lichterloh.
Nachtmärchen
O kommt, ihr lieben Heimatgeister,
Nachteule, Spuk und Kieselbach,
herein mit euerm Harfenmeister,
dem dunkeln Wind, in mein Gemach.
Ich möchte euch so gerne hören,
bereit sei euch mein ganzes Haus;
nicht eine Ratte darf euch stören
und Todesstrafe gilt der Maus.
Sogar die Bilder an den Wänden
und alle Kästen sind gespannt,
die Uhr will ihre Rede enden,
die Fliege schweigen an der Wand.
Und wenn ihr etwa argt, es fiele
die Sonne jäh in den Kamin
und schliche vor bis an die Diele,
um eures Märchens Anbeginn
Mit lautem, grellen Glanz zu stören —
Es ist nur eine Fledermaus,
die wollte euch auch gerne hören
und rutschte im Kamine aus.
Unser Haus
Unser Haus hat kühle Wände,
Kohlen, die im Eimer lärmen,
Katzen, die die grauen Bälge
eng am braunen Ofen wärmen,
Äpfel, die aus alten Kästen
atmen und die Luft der Gärten
wecken, Bibelbände, die sich
auftun und lebendig werden,
und den Wind noch vor der Tür,
der für uns Musik bedeutet,
weil von allen braven Schwalben
keine mehr im Hausgang läutet.
Vor dem Frühling
Wenn hungerdünne Vögel sich empören
argwöhnisch gegen Himmel, Mond und Stern,
im dunkeln Wind die Bäume aber röhren,
begnadete Propheten ihres Herrn,
dann ist die große Unruh nicht mehr weit,
die sich aus Sturm und Drang der Erde wühlt,
aufringt und an den Wolken reißt und schreit,
weil sie den Heiland in der Sonne fühlt.
Bahnfahrt durch den Vorfrühling
Ziegelbauten, die wie rote
Schachteln als Fabriken liegen,
leben auf, um wintertote,
ferne Hügel zu erfliegen.
Und die reiserigen, leeren
Birken, die den Besen gleichen,
langen himmelhoch und kehren,
bis die grauen Wolken weichen.
Zwischen hundert Pappelpaaren
fängt ein Kirchturm an zu laufen,
hastend, um den ersten Staren
ein paar Nester abzukaufen.
Vor der Brücke
Vor der Brücke, die den Strom verhöhnte,
neigte sich der Schlot des Dampfers, kroch
der Rauch wie eine Pantherkatze, dehnte
sich, daß jeder, der die Demut roch,
sein Antlitz wandte,
bis der Dampfer wieder sich ermannte,
Bläue raubte, stieg, flog, schwindendhoch.
Frühlingserscheinung
Kühl in bleichen Perlen rann ein Schauern
über meinen Leib, der Waldbach hörte
auf zu rauschen, feste Luft beschwerte
mich, ich stand fast reglos wie in Mauern
eingekalkt, durch die ein Häher sägte.
Und ich sah, wie jeder Fels sich regte
und mit einem Sonnenauge dünnes
Lachen anfing, daß es jeder fühlte
von den nackten Bäumen und ein grünes
Hemd schamhaft um seinen Körper hüllte.
Die Frühlingssonne kommt
Wohin sie tritt,
in allen Wolken
blühen weiße Wunder auf.
In blauen Körben
bringt sie Vögel
von der Reise mit,
und schüttet sie,
die heimatglücklich schauen,
aus in alle Nester,
scheucht das feuchte Dunkel
sorglich
aus den Wäldern
und setzt dem Moose
große, gelbe Augen ein,
daß jedes wachsam leuchte.
Tauwetter
Wenn die Mauerwände tief verzückt
im sonnengelben Wunder stehn, erbeben
jene Flecken, welche rundgestückt
wie feuchter Hauch am glatten Steine kleben.
Dächer, denen letzter Schnee zerfetzt
von nackten, nassen Schultern hängt, verneigen
sich zu wachen Gossen, glanzbenetzt,
und brechen rot das weiße Winterschweigen.
Was sie selig weinen, ist Gesang,
daß viele Menschen, ganz von Melodie
betört, ein Rieseln fühlen, tropfenlang,
aus tiefen Lenden bis ins hohle Knie.
In der Frühe
Wie sich die jungen Felder unermüdlich rühren!
Der Morgennebel qualmt wie Rauch aus hundert Schlöten,
aus grauen Steinen sägt der Wind uralte Flöten,
die helle Arbeitslieder in den Werktag führen.
Allmählich schiebt die Saat sich aus dem grauen Felde
wie grünes Garngespinst aus großen Webmaschinen,
und bis die Sonne schaut, wie die Fabriken spinnen,
liegt schon ein großer grüner Fleck vor ihrem Zelte.
In der Färberstube
Auf alten Tischen häuft sich blaues Tuch,
das aus der Mange rollte, leinenglatt,
und atmet, bis der scharfe Farbgeruch
die Stubenlüfte überwältigt hat.
Durchs aufgemachte Fenster aber stäubt
der Duft der Rosen, die verschwendrisch groß
im nahen Garten blühen, und betäubt
die werkstattfeuchte Luft des Indigos.
Stiller See
Wenn der wolkenlose, blitzendhelle
Tag sich selig schweigsam auf die breiten
Wasser legt und sich nicht eine Welle,
auch nur leise, aufbäumt, dehnt in weiten
Flächen sich der See aus wie erstarrtes,
klares, grünes Glas, daß man erregt
aus tiefen Träumen aufwacht, wenn ein hartes
Ruder Scherben aus dem Spiegel schlägt.
Vor dem Gewitter
Auf den grünen Hängen, die den großen
See umlaufen, beugen tief erschreckt sich alle
Bäume wie zum jähen Sprung und stoßen
Schreie vor dem schweren Wolkenballe
aus, der drohend aus dem Horizonte
fliegt, daß alle Wasser schwarz sich färben
wie die Menschen weiß vor Angst, gewohnte
Ruhe rings verlieren, Verderben
ahnen und mit schäumendweißen Wellen
wie mit Mövenflügeln in die regenreifen
Lüfte schlagen, als wollten sie im schnellen
Drang verstört die Flucht ergreifen.
Mittagsstille
Wenn die Vögel lautlos durch den Mittag gleiten,
schwingenweit, um jenen Glanz, der in den Lüften
bebt, auf ihren Flügeln aufzuhäufen, breiten
sich die Wälder selig aus, in ihren Hüften
hochgefühlevoll, urheilig, ernst wie seltne Frauen
kurz vor der Empfängnis, wenn nur Hauch mehr flüstert,
voll Erwartung, bis die heiligengeistesblanken
Vögel auf sie niederkommen und den blauen
Ätherglanz des Mittags von den lüsternschlanken
Flügeln schütten, daß die Wollust in den Zweigen knistert.
Auf der Waldwiese
Föhren, die im Glanz des Mittags blauten,
drängten an die reife Wiese, hielten
tiefgespannt den Atem an und schauten
auf die Falter, die im Tanze spielten.
Als die Tänzer müde waren, boten
farbenlaute Blumen weiche Sessel
an; die gelben überschrien die roten,
blaue drängten vor die weiße Nessel.
Wolken, die vor Neugier schwollen, tauchten
aus dem Himmelmeer; die Bäume hauchten
plötzlich mächtig auf; Applaus, das dünne
Donnern eines fernen Hochgewitters,
wehte wogend über die Tribüne.
Die Sicheln
Sicheln, die in hungerigen Scheunen
müde schlafen, wachen auf und singen
schaurig, wandern, Mordlust in den Klingen,
aus dem Hof, entlang an hellen Zäunen.
Wo die reifen Ähren über dunkeln
Acker-Furchen furchtsam bebend schwanken,
lachen sie, daß ihre heillos blanken
Augen geisternd durch die Felder funkeln.
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